Zwei Seiten derselben Medaille

Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion und die deutschen kolonialistischen Verbrechen

Am Dienstag, dem 22. Juni 2021, jährt sich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 80. Mal. „Zur gleichen Zeit, in der wir dieses verbrecherischen Krieges – eines Vernichtungskrieges – gedenken, hat die Bundesregierung den deutschen Völkermord vor über 100 Jahren an den Herero und Nama anerkannt. Das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille“, erklärte Thomas Siepelmeyer vom Arbeitskreis Afrika (AKAFRIK), der am Montag (21. Juni) der kommenden Woche eine Mahn- und Gedenkveranstaltung mitorganisiert.

Fast versteckt steht das Stalingrad-Denkmal der „Traditionskameradschaft der 16. Panzer-Division und 16. Infanterie-Division Münster in Westfalen“ am Kalkmarkt (Münzstraße). Vor 60 Jahren – gestattet vom Rat der Stadt Münster – wurde es zunächst gegenüber dem Clemenshospital aufgestellt. Es gehört zu den wenigen Kriegsdenkmälern in Münster, die erst in der Bundesrepublik errichtet wurden. (Fotos: Werner Szybalski)

Deutschland überfiel 1941 die Sowjetunion

Am 22. Juni 1941 überfiel Deutschland die Sowjetunion. Dieser Krieg und die anschließende Besatzung durch die Deutschen brachten unermessliche Gewalt und unendliches Leid in das Land. 27 bis 35 Millionen Einwohner*innen der damaligen Sowjetunion starben im Zweiten Weltkrieg. Der Sieg über die Deutschen Aggressoren knapp vier Jahre später wurde von den Menschen in der Sowjetunion teuer bezahlt. So wurden zum Beispiel in der relativ kleinen weißrussischen Sowjetrepublik, in das heutige Belarus marschierten die Deutschen als erstes ein, fast 1000 Dörfer und Städte gewaltsam ausradiert. Durch die deutsche Belagerung von Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, verhungerten zwischen 1941 und 1944 um die 800 000 Einwohner*innen. Auch Ex-Kanzler Helmut Schmidt war als Wehrmachtsoffizier für ein Jahr Teil dieses mörderischen Kommandos, was im offiziellen Gedenken in Deutschland nur selten größere Beachtung fand und findet.

„Rassenkriegs“ gegen die indigenen Völker Namibias

Zur gleichen Zeit, in der wir dieses verbrecherischen Überfalls gedenken, versucht die deutsche Regierung ein Abkommen mit Namibia abzuschließen. In diesem will sie den Völkermord der Deutschen an den Ovaherero und Nama – nach 113 Jahren – endlich anerkennen. „Die Bundesrepublik gab nun bekannt, die damaligen Praktiken eines »Rassenkriegs« (race war) gegen die indigenen Völker Namibias als das zu bezeichnen, was es war: Völkermord“, erläuterte Thomas Siepelmeyer. Verteilt über die nächsten 30 Jahre sollen insgesamt 1,1 Milliarden Euro „an bestehende Hilfsprogramme“ gezahlt werden.

„Diese Summe entspricht ungefähr dem Haushalt der Stadt Münster – für ein einziges Jahr! Für die Betroffenen eine Beleidigung“, so Siepelmeyer. Das Abkommen, das aus bilateralen Verhandlungen zwischen der deutschen und der namibischen Regierung hervorgegangen ist, würde von vielen traditionellen Führern und Repräsentanten der betroffenen Gemeinden abgelehnt und als „Beleidigung“ bezeichnet. Dies hält Afrika-Experte Thomas Siepelmeyer für eine zutreffende Einschätzung: „Es ist eine raffinierte diskursive Verwandlung von fortlaufenden Entwicklungshilfezahlungen in eine große versöhnliche Geste.“

Thomas Siepelmeyer

Die Betroffenen sähen dies als zusätzliche Beleidigung für die Jahrhunderte herablassende Haltung gegenüber Ungerechtigkeit und Degradierung der Menschen in Afrika. Der Versuch, die dunkle Vergangenheit in Bezug auf Namibia aufzuarbeiten, bliebe halbherzig. Siepelmeyer: „Aber immerhin, ein erster Schritt ist gemacht.“

Verständigung mit Russland fehlt

Für die Aufarbeiteung Deutschlands dunkler Vergangenheit in Osteuropa fehlt dieser erste Schritt noch. Man hat den Eindruck, dass viele deutsche Politiker daran arbeiten, bewusst oder unbewusst, die alten, von den Nazis übernommenen antirussischen Ressentiments zu reaktivieren. Eine Verständigung mit Russland fehlt. Ein dauerhafter Friede und Völkerverständigung könnte aber nur gelingen, wenn die russischen Ängste ernst genommen würden.

Die Angst vor Deutschland habe seine Gründe. Als Deutsche müssten wir uns immer wieder klar machen, dass diese Ängste und Befürchtungen nicht unbegründet seien. Die deutsche Nation wurde durch den Krieg gegen Frankreich 1870 chauvinistisch begründet. Ihre erste Aktion war die Unterstützung der französischen Reaktion bei der Niederschlagung der Pariser Kommune vor 150 Jahren. Die Blutspur des deutschen Militarismus führte über den Völkermord in Afrika und die beiden Weltkriege zum Völkermord an den Juden und Jüdinnen Europas, den Sinti und Roma und den Menschen in den Gebieten der überfallenen Sowjetunion.

„Eine aufgezwungene deutsche Identität lehnen wir ab. Wir stellen uns überall und immer auf die Seite der Opfer und ihrer Nachfahren. Zu den Opfern des deutschen Militarismus gehören auch die Zwangsarbeiter*innen. Tausende Männer, Frauen und Kinder wurden nach Deutschland verschleppt – auch nach Münster“, so der Aufruf zur Demonstration am kommenden Montag (21. Juni). Am Dienstag danach wird in Hiltrup, wo sich das Zwangsarbeitslager „Waldfried“ befand, den Zwangsarbeiter*innen mit einem Rundgang gedacht.

Veranstaltungen

  • Montag, 21. Juni 2021
  • Ab 16.30 Uhr: Kundgebung am Traindenkmal / Ludgeriplatz
  • Thomas Siepelmeyer: „Der deutsche Völkermord in Namibia“
  • 18.00 Uhr: Demonstration durch die Innenstadt
  • 18.30 Uhr: Kundgebung am Stalingrad-Schandmal am Kalkmarkt / Münzstraße
  • Gerhard Schepper: „Die russische Sicht ernst nehmen – Bericht über eine Reise nach Russland an Orte, wo mein Vater kämpfte“
  • Hugo Elkemann: „Wie eine neue Erinnerungskultur aussehen muss“
  • im Anschluss weitere Redner*innen, Musikstücke, Lesung sowie Diskussionsmöglichkeit
  • Dienstag, 22. Juni 2021
  • 16.00 Uhr: Rundgang zum Gedenken an die ermordeten Zwangsarbeiter in Hiltrup, Zwangsarbeitslager „Waldfriede“ zwischen Kanal und Hiltrup-Ost (VVN, pax christi, u.a.)
  • 19.00 Uhr: Eugen Drewermann: „Wege zum Frieden“ – Vortrag und Diskussion, Überwasserkirche (pax christi)

Eine Straße für May Ayim

Bündnis fordert Straßenbenennung in Münster

May Ayim, die 1996 in Berlin verstorbene Lyrikerin und Aktivistin für die Rechte der Schwarzen in Deutschland, wäre am vergangenen Montag 61 Jahre alt geworden. May Ayim wuchs in Münster auf und machte an der Friedensschule Abitur. Nach Studium in Regensburg und Berlin wurde May Ayim für ihre Gedichte und für ihr Engagement bei der Gründung der bundesweiten Initiative Schwarze Menschen in Deutschland bekannt.

Am Geburtstag von May Ayim startete die Gruppe May Ayim Ring gemeinsam im Bündnis mit den Zugvögeln Münster, dem Arbeitskreis Afrika (AKAFRIK), Vamos und dem Verein Grevener 31 den zweiten Versuch, eine Straße nach der Vorkämpferin für Afro-Deutsche und Schwarze in Deutschland zu benennen.

Zugvögel wollen Umbenennung des Kaiser-Wilhelm-Rings

Im Frühjahr hatten die Zugvögel Münster vorgeschlagen, den Kaiser-Wilhelm-Ring in May-Ayim-Ring umzubenennen. Diese Forderung unterstützt das Bündnis. Werner Szybalski von der Münsterliste erklärte zum Auftakt der Kundgebung an der Warendorfer Straße allerdings: „Wissend, dass es eine zielgerichtete Diskussion zur Entfernung belasteter Straßennamen in Münster gibt, möchten wir heute aufzeigen, dass wir der Ansicht sind, dass in Münster mit einem Straßennamen den Schwarzen Menschen Respekt und Anerkennung gezollt werden sollte. Uns ist wichtig, dass in der laufenden Diskussion zu Straßenumbenennungen in Münster die Schwarzen Münsteraner*innen berücksichtigt werden. May Ayim erscheint uns eine richtige Wahl. Welche Straße es nachher wird, ist dabei für uns von geringerer Bedeutung.“

Schwarze leiden unter Alltagsrassismus

Clarissa Naujok, Dritte Stellvertretende Vorsitzende des Integrationsrates der Stadt Münster, gab einen Einblick in die Lebenswirklichkeit Schwarzer Menschen in Münster: „Das Leben ist für Schwarze in unserer Stadt leider noch immer von Rassismus stark beeinträchtigt. Ich selbst erlebe dies sogar im Integrationsrat der Stadt.“ Sie unterstützt die öffentliche Ehrung von May Ayim durch eine Straßenbenennung, weil es auch ein Zeichen zur Anerkennung der Lebensleistung Schwarzer in Deutschland sei.

Mit der kolonialer Vergangenheit auseinandersetzen

Thomas Siepelmeyer vom Arbeitskreis Afrika verband die vielen rassistischen Erfahrungen Schwarzer in Münster mit der Geschichte des deutschen Kolonialismus. Es würde viel zu viel an Militaristen und Kolonialisten als an die Opfer gedacht. Dies gelte auch für Denkmäler und Straßennamen.

Die Zugvögel Münster, Initiator*innen der Umbenennung des Kaiser-Wilhelm-Rings, verdeutlichten: „Wir fordern, dass sich die Stadt Münster umfassend mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinander setzt und diese aktiv aufarbeitet.“

Unrast-Verlag veröffentlicht Werke von und über May Ayim

Die Auftaktveranstaltung am Kaiser-Wilhelm-Ring wurde mit Livemusik von Fari Hadipour und Daniel eingerahmt. Im Münsteraner Unrast-Verlag werden im August Werke von May Ayim, darunter auch „Blues in Schwarz weiß“ neu aufgelegt. Auch ein biographisches Buch über May Ayim, herausgegeben von Ika Hügel-Marshall, soll im Sommer erscheinen.