Butter statt Kanonen – Umverteilung jetzt!

„Es sind wahrlich makabre Zeiten, in denen wir leben.“ – Gespräch mit Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Für die Winterausgabe 2024 der Sperre, dort erschien das Gespräch gedruckt, interviewte Werner Szybalski den in Köln lebenden ehemaligen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten und prominentesten Armuts-, Reichtums- und Verteilungsgerechtigkeitsforscher in Deutschland.

Im Land, auch in Münster, nimmt die soziale Ungleichheit seit Jahren zu. Warum ist das so und welche Bedeutung haben die „Zeitenwende“ mit ihrer zusätzlichen Rüstungsanstrengung, welche Rolle spielt unsere Wirtschaftsstruktur, welche die Eigentumsverhältnisse und warum gibt es keinen gerechten Verteilungsmechanismus? Antworten gibt Christoph Butterwegge, der politisch und meinungsfreudig ist:

Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron (l.) wird von Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe begrüßt. Foto: Stadt Münster

Du warst am 28. Mai dieses Jahres zufällig in Münster, als der französische Präsident Macron im Historischen Rathaus den mit 100.000 Euro dotierten Internationalen Preis des Westfälischen Friedens für besonderes Engagement für Frieden und Verständigung der Wirtschaftlichen Gesellschaft für Westfalen und Lippe erhielt. Kurz zuvor hatte Emmanuel Macron, um einen russischen Sieg in der Ukraine zu verhindern, nicht ausgeschlossen, dass sich französische Bodentruppen auf Seiten der Ukraine am Krieg beteiligen könnten. Passt diese Überlegung des Präsidenten zum Friedenspreis?

Christoph Butterwegge: Überhaupt nicht. Es sind wahrlich makabre Zeiten, in denen wir leben. Da wird dem französischen Präsidenten ein Friedenspreis verliehen, obwohl er den russisch-ukrainischen Krieg eskalieren und die Weltkriegsgefahr potenzieren will. Übrigens titelte die Süddeutsche Zeitung genau zwei Monate später „Raketen für den Frieden“, kurz nachdem Olaf Scholz am Rande des jüngsten NATO-Gipfels der Stationierung von „abstandsfähigen Präzisionswaffen“ in Deutschland zugestimmt hatte, und meinte es nicht etwa ironisch. Dabei hatte Helmut Schmidt, sein Vorvorgänger als sozialdemokratischer Bundeskanzler, schon in dem 1961 erschienenen Buch „Verteidigung oder Vergeltung“ erklärt, was die neue Aufrüstungsinitiative so abenteuerlich macht: „Landgestützte Raketen gehören nach Alaska, Labrador, Grönland oder in die Wüsten Libyens oder Vorderasiens, keineswegs aber in dicht besiedelte Gebiete; sie sind Anziehungspunkte für die nuklearen Raketen des Gegners. Alles was Feuer auf sich zieht, ist für Staaten mit hoher Bevölkerungsdichte oder kleiner Fläche unerwünscht.“ Tatsächlich sind Raketen – militärisch gesehen – Magneten, die Gegenreaktionen herausfordern und die Kriegsgefahr erhöhen.

Deutschland rüstet massiv auf und will zudem wieder amerikanische atomar bestückbare Mittelstreckenwaffen stationieren. Aufrüstung kostet extrem viel Geld. Drängt sich die Frage auf, ob wir vor einer Entscheidung „Butter oder Kanonen“ stehen?

Christoph Butterwegge: Clemens Fuest, Chef des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung, hat dies im Februar 2024 bei Maybrit Illner wie folgt begründet: „Kanonen und Butter, es wäre schön, wenn das ginge, aber das ist Schlaraffenland, das geht nicht.“ Da hat der neoliberale Ökonom ausnahmsweise mal recht: Sozial- oder Rüstungsstaat heißt in der Tat die Alternative, wenn das „Sondervermögen Bundeswehr“ 2027/28 ausgeschöpft ist und der Militäretat laut Scholz und Pistorius schlagartig um 20, 25 oder 30 Milliarden Euro steigen muss, um das anvisierte Ziel von „mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts“ zu erreichen. Schon wegen meines Familiennamens fordere ich: Butter statt Kanonen! Ich denke dabei in erster Linie an die Armen und sozial Benachteiligten, Fuest hingegen an die Reichen, etwa die (Groß-)Aktionäre der Rüstungskonzerne. Sinnvoller als zusätzliche Rüstungsprojekte wären Mehrausgaben im Sozial- und Gesundheitsbereich, um Obdach- und Wohnungslosigkeit zu bekämpfen, den öffentlichen Wohnungsbau wiederzubeleben, der Kinderarmut entgegenzuwirken, den Pflegenotstand zu beseitigen und die Alterssicherung für abhängig Beschäftigte wieder auf eine solide Finanzierungsgrundlage zu stellen. Zu befürchten ist jedoch, dass sich Wohnungsnot sowie Energie- und Ernährungsarmut infolge einer unsozialen „Sparpolitik“ ausbreiten. Denn die stark gestiegenen Preise für Gas und Strom, aber auch bei Grundnahrungsmitteln wie Brot, Mehl, Speiseöl, Eiern oder Nudeln, bedeuten für Menschen, die schon vor dem Ukrainekrieg kaum über die Runden kamen, dass sie den Gürtel noch enger schnallen müssen. Die große Mehrheit der Bevölkerung kann sich staatliche Austerität nicht leisten.

Münster ist eine reiche Stadt in der die Armut relativ gut versteckt ist. Woran liegt es, dass sich in gut situierten bürgerlich-konservativen – in Münster kommt sicherlich noch katholisch geprägten hinzu – Städten sich von Armut bedrohte und natürlich auch die in Armut lebenden Menschen nicht offener zeigen?

Christoph Butterwegge: Da man die Armen hierzulande in aller Regel selbst für ihre soziale Misere verantwortlich macht, statt in der wachsenden Ungleichheit ein strukturelles Problem zu sehen, schämen sich die Betroffenen. In der Öffentlichkeit gelten sie als „Drückeberger“, „Faulenzer“ und „Sozialschmarotzer“, die „uns Steuerzahlern“ auf der Tasche liegen. Wer so tituliert und in fast allen Lebensbereichen diskriminiert wird, resigniert meist und versteckt sich lieber so gut es geht, was es übrigens schwerer macht, Armut und soziale Ungleichheit zu bekämpfen.

Was ist unter „absoluter“ und „relativer Armut“ zu verstehen?

Christoph Butterwegge: Es gibt keine allgemein verbindliche Definition von Armut, sondern in der Fachliteratur bloß den Versuch, das Problem durch die Unterscheidung zwischen absoluter, extremer oder existenzieller Armut einerseits sowie relativer Armut andererseits zu klären. Von absoluter Armut ist betroffen, wer seine Grundbedürfnisse nicht zu befriedigen vermag, also die für das Überleben notwendigen Nahrungsmittel, sicheres Trinkwasser, eine den klimatischen Bedingungen angemessene Kleidung und Wohnung sowie eine medizinische Basisversorgung entbehrt. Von relativer Armut ist betroffen, wer sich vieles von dem nicht leisten kann, was für fast alle übrigen Mitglieder einer wohlhabenden Gesellschaft als normal gilt, also mal ins Kino oder ins Theater zu gehen, aber auch, sich mit Freunden im Restaurant zu treffen. Während die absolute Armut eine existenzielle Mangelerscheinung ist, verweist die relative Armut auf den Wohlstand, der sie hervorbringt. In einer so reichen Gesellschaft wie der unseren ist Armut nicht gott- oder naturgegeben, sondern vorwiegend systemisch, dass heißt durch die bestehenden Eigentums-, Macht- und Herrschaftsverhältnisse bedingt.

Welche Gruppen in Deutschland sind warum besonders von Armut betroffen? Reicht der Mindestlohn, um Armut zu entkommen?

Christoph Butterwegge: Besonders vulnerabele Personengruppen können sich den bestehenden Verhältnissen schwer entziehen, weil sie aufgrund ihrer schwachen Stellung in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung strukturell benachteiligt oder diskriminiert werden. Waren nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst vor allem viele Rentnerinnen arm, bis die Große Rentenreform 1957 das Problem abmilderte, lösten Kinder und Jugendliche sie in den späten 1980er-Jahren als Hauptbetroffenengruppe ab. Mit der Agenda 2010 und Hartz IV hat sich die Situation insofern verändert, als die rot-grüne Reformpolitik die Lage von Millionen Langzeit- bzw. Dauererwerbslosen und ihren Familien spürbar verschlechtert und besonders durch das Abdrängen der Langzeiterwerbslosen, die vorher Arbeitslosenhilfe erhalten hatten, in den Fürsorgebereich mit seinen für alle gleich niedrigen Transferleistungen dazu beigetragen, dass sich die Kinderarmut beinahe verdoppelte. Noch immer spielt der Niedriglohnsektor als Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien- und Kinderarmut wie für spätere Altersarmut eine Schlüsselrolle. Der gesetzliche Mindestlohn schottet den Niedriglohnsektor nach unten ab, bringt ihn jedoch bisher nicht zum Verschwinden.

Die Kürzungen im Bundeshaushalt 2025 wirken sich auch direkt auf Münster und dessen Jobcenter aus. Wegen der Streichungen werden insbesondere Mittel für Langzeitarbeitslose knapp, die 1-Euro-Jobs oder eine Arbeitsgelegenheit gemäß § 16i SGB II haben. Bei Asyl-Suchenden und Langzeitarbeitslosen wird gekürzt und das Bürgergeld 2025 nicht erhöht – geht der Sozialstaat vor die Hunde?

Christoph Butterwegge: Zwar hat Olaf Scholz auf dem letzten SPD-Bundesparteitag im Dezember 2023 unter lautem Beifall der Delegierten versprochen, dass es keinen Abbau des Sozialstaates geben werde. Gleichwohl folgt der außen-, energie- und militärpolitischen Zeitenwende, die Scholz zu Beginn des Ukrainekrieges ausgerufen hat, jetzt mit leichter Verzögerung eine wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Zeitenwende. Das erste Opfer der sozialpolitischen Zeitenwende war die Kindergrundsicherung, aber weitere Maßnahmen, die Armen und Angehörigen der unteren Mittelschicht besonders schaden, dürften folgen, es sei denn, dass sich massiver Widerstand regt.

Stichwort Kinderarmut. Warum werden reiche Eltern häufig besser von der Bundesregierung unterstützt als Erziehungsberechtigte von armen oder von Armut bedrohten Kindern?

Christoph Butterwegge: Wer reich ist, ist auch politisch einflussreich. Das sieht man am deutlichsten an der Steuergesetzgebung, die Scheunentoren gleichende Schlupflöcher für Kapitaleigentümer geschaffen hat. Hingegen fehlt den Armen eine Lobby, die mächtig genug ist, um die Gesetzgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Ist „Umverteilung des Reichtums“, der Titel Deines jüngsten Buches, die Lösung?

Christoph Butterwegge: Aufgrund der bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen werden die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher. Tagtäglich findet Umverteilung statt – allerdings nicht von Oben (den viel Besitzenden) nach Unten (den hart Arbeitenden), sondern von Unten nach Oben: Unternehmensprofite, Veräußerungs- und Kursgewinne der Aktionäre, Dividenden, Zinsen sowie Miet- und Pachterlöse von Immobilienkonzernen fließen überwiegend in die Taschen materiell Bessergestellter, sind aber normalerweise von Menschen erarbeitet worden, die erheblich weniger Geld haben, oft nicht einmal genug, um in Würde leben zu können. Deshalb muss Umverteilung künftig in die entgegengesetzte Richtung stattfinden – als Rückverteilung des Reichtums von Oben nach Unten, also zu denjenigen Menschen, die ihn geschaffen und nicht geerbt haben. Der wichtigste Hebel dafür ist eine andere Steuerpolitik, die Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche stärker belasten müsste, um eine konsequente Armutsprävention und -bekämpfung des Staates zu finanzieren, die viel Geld kostet. Will man die soziale Ungleichheit nicht bloß reduzieren, sondern darüber hinaus die Entstehung weiterer Ungleichheit dauerhaft verhindern, muss man auch ihre strukturellen Ursachen beseitigen und das kapitalistische Gesellschaftssystem überwinden.

Du bist zwar nicht Mitglied, warst aber Kandidat der Linkspartei bei der Bundespräsidentenwahl 2017. Inzwischen zeigt DIE LINKE – nicht erst als sich die Bundestagsfraktion spaltete – vielerorts Auflösungserscheinungen. Woran liegt das?

Christoph Butterwegge: Das hat sicher viele Gründe. Einer ist der, dass die LINKE nicht mehr als konsequente Interessenvertreterin der sozial Benachteiligten wahrgenommen wird und auch weder zum Ukrainekrieg noch zu den Waffenlieferungen und den Sanktionen klar genug Stellung genommen hat. Habituell fühlen sich eher Angehörige der urbanen Mittelschicht von der Partei angesprochen, die nach den verheerenden Wahlniederlagen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg um ihre Fortexistenz bangen muss.

Deine Frau Carolin Butterwegge ist Mitglied im Bündnis Sahra Wagenknecht. Ist das BSW auch für Dich eine mögliche politische Heimat?

Christoph Butterwegge: Nein. Ich fühle mich weiterhin als ideeller Gesamtlinker, der keiner Partei beitritt, sondern für ein breites Bündnis wirbt, in dem BSW-Anhängerinnen und -Anhänger ebenso ihren Platz haben müssen wie Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, Grüne und LINKE. Auch in den „bürgerlichen“ Parteien CDU, CSU und FDP gibt es übrigens viele Mitglieder, die für mehr soziale Gerechtigkeit eintreten, ohne dass ihre Führungen dem Rechnung tragen.

2025 wird ein neuer Bundestag gewählt. Die Ampelkoalition ist selbst für den ehemaligen grünen Parteichef Omid Nouripour nur eine „Übergangsregierung“. Woran ist die Koalition von SPD, Grünen und SPD gescheitert und warum ist trotz einiger eingeführter sozialer Verbesserungen wie der Anhebung des Mindestlohns oder Einführung des Bürgergeldes die Meinung bei den abgehängten Menschen in Deutschland zur Ampel so schlecht?

Christoph Butterwegge: Man hat etwa beim Bürgergeld durch die Verschärfung der Sanktionen und Leistungskürzungen eine Rolle rückwärts vollzogen und ist von einer „Fortschritts-“ zu einer sozialpolitischen Rückschrittskoalition geworden. Statt die Armen im eigenen Land stärker zu unterstützen, haben SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP allein in diesem Jahr acht Milliarden Euro für Militärhilfe an die Ukraine ausgegeben. Daher muss die soziale Frage inhaltlich mit der Friedensfrage verbunden, der außerparlamentarische Druck auf die Regierenden erhöht und der Widerstand durch gemeinsame Aktionen von Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Globalisierungskritikern sowie Klimagerechtigkeits- und Friedensbewegung gestärkt werden. Gelingen kann das, weil die Zahl derjenigen gewaltig ansteigen dürfte, die „den Gürtel enger schnallen“ müssen, obwohl er ihnen schon auf den Knochen sitzt, damit Deutschland nach den Wünschen „kriegstüchtig“ wird. Wohlstandseinbußen, die Millionen Menschen weit über den Kreis der Transferleistungsbezieherinnen und -bezieher hinaus treffen, denen die FDP keine Erhöhung der Regelbedarfe mehr zugestehen will, bleiben nicht folgenlos. Arme versetzt diese Politik in einen sozialen Ausnahmezustand, aber auch die Mittelschicht gerät zunehmend unter Druck.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher „Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht.

DGB Münster zum Weltflüchtlingstag

Asylrecht schützen! Skandalöse Unterbringung in der ZUE beenden!

Der DGB Münster veröffentlichte heute folgende Pressemitteilung, die ungeküzt dokumentiert wird: Während weltweit mittlerweile über 100 Millionen Menschen auf der Flucht vor Kriegen, Hunger, Armut und Klimakatastrophen sind, ist das Asylrecht in Europa in Gefahr. Verweigerte Seenotrettung, illegale Pushbacks in Griechenland, Misshandlungen an der kroatischen Grenze, Inhaftierung Asylsuchender in polnischen Lagern sind nur die Spitze des Eisbergs, anhand derer sich die tagtägliche Kette von Menschenrechtsverletzungen in Europa dokumentieren lassen. Mehr als hunderttausende Geflüchtete leben schon seit vielen Jahren in Deutschland und müssen trotzdem jeden Tag mit der Angst vor Abschiebung leben. Der im Koalitionsvertrag vereinbarte Flüchtlingsschutz lässt auf sich warten.

Es fehlt an Vielem

Auch in Münster werden die Augen geschlossen, wenn es um das Wohl von geflüchteten Menschen geht. Durch die schwerpunktmäßige Zusammenführung der geflüchteten Menschen aus der Ukraine, werden Flüchtlinge aus anderen Ländern in andere Einrichtungen zusammengeschoben. Aus der zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) in der ehemaligen York-Kaserne mehren sich die Berichte über menschenunwürdige Zustände: Überbelegungen; es fehlt an Betten, Decken und Kissen; keine dauerhafte sichergestellte Strom- und Warmwasserversorgung;  extrem lange Wartezeiten bei der Essensausgabe und Leistungsauszahlung, keine persönlichen Rückzugsräume; nächtliche Abschiebungen, etc.

Demonstration gegen die Zustände im ZUE Münster. (Foto: Archiv Werner Szybalski)

Unwürdige Lebensbedingungen

Menschen, die vielfach einen langen Leidensweg hinter sich haben, erleben in Münster unwürdige Lebensbedingungen, denen sie hilflos ausgesetzt sind. „Die Menschen hatten einen Traum von einem sicheren Leben in Deutschland und erleben hier ein weiteres Trauma! Das darf eine Stadt wie Münster nicht ignorieren! Wer Geld für Flughäfen und Musikhallen in die Hand nehmen kann, der muss doch wohl auch Geld für eine menschenwürdige Unterkunft und selbstbestimmtes Leben von Menschen übrig haben. Wir als DGB erwarten von der Stadtpolitik kein Kompetenzgerangel um die Zuständigkeit zur Behebung dieser Verhältnisse, sondern sofortiges Handeln!“ empört sich die DGB-Stadtverbandsvorsitzende Pia Dilling.

Verschärfend zur Überbelegung kommt die Unterbesetzung des Personals auf allen Ebenen. Die medizinische Versorgung ist gefährdet. Es fehlt an Sozialarbeiter*innen, deren Arbeit durch häufigen Personalwechsel und damit fehlender Kenntnis von vertrauten Abläufen noch erschwert wird. Für Kinder und Jugendliche, die weit über die erlaubten sechs Monate in der ZUE untergebracht sind, ist das schulische Lernangebot mit nur zwei Lehrkräften völlig unzureichend. „Gute Arbeit ist hier nicht möglich und es wundert mich nicht, wenn hier kaum Personal zu finden ist und die Fluktuation beim Personal so hoch ist, auch wenn gerade hier viel gute Arbeit nötig wäre!“, entrüstet sich der stellvertretende Stadtverbandsvorsitzende Carsten Peters.

„Alle Menschen haben das Recht auf Schutz.“

Der DGB-Stadtverband Münster stellt fest, dass das Konzept der ZUE als Landeseinrichtung versagt hat und fordert die entsprechenden Stellen auf ihren jeweiligen politischen und verwaltungstechnischen Handlungsspielraum zu nutzen, um den Geflüchteten, egal aus welchen Ländern, gleichberechtigt eine menschenwürdige Bleibeperspektive zu ermöglichen. Dilling zum Weltflüchtlingstag: „Alle Menschen haben das Recht auf Schutz – wo auch immer sie herkommen, wo auch immer sie sind und warum auch immer sie gezwungen sind, zu fliehen.“

Blutspur bis zum Train-Denkmal

Kinderhauser „Werkstatt Gruppe Politik“ legt „Liste der Toten“ öffentlich aus

Am Weltflüchtlingstag (Sonntag, 20. Juni) legte die Kinderhauser Gruppe „Werkstatt Gruppe Politik“ eine 40 Meter lange „Liste der Toten“ aus. „Wir möchten heute hier am Train-Denkmal – oder besser sagt man dazu Schandmal – den viel zu vielen Toten gedenken, die auf der Flucht gestorben sind“, erläuterte Katja Weber von der „Werkstatt Gruppe Politik“ den Passant*innen auf der Promenade den Hintergrund ihrer Mahnwache am „Tag des Flüchtlings“. Die Gruppe entnimmt der Webseite der Organisation „United against racism“ die Namen der Menschen, die auf der Flucht gestorben sind. „Leider ist das Erinnern häufig sehr schwer, denn viele der gestorbenen Geflüchteten können nicht identifiziert werden“, erklärte Katja Weber, warum so häufig „n.n.“ auf der Liste erscheint. Zu den unzähligen Verstorbenen, an die durch die Liste gedacht werden soll, kommen noch die Menschen, die nach ihrem Tod auf der Flucht niemals von Menschenrechtlern gefunden wurden.

In diesem Jahr legte die „Werkstatt Gruppe Politik“ die Liste der Toten am Train-Denkaml am Ludgeriplatz aus. (Fotos: Werner Szybalski)

Detaillierte Opferliste

Die Gruppe listet Todesdatum, Namen, Herkunftsland oder -gebiet, Todesursache und den Namen der Orgaisation, die die Daten der Verstorbenen erfasst hat, auf. Zwei Beispiele: 14/04/20; Teklay Kinfe (young man); Sub-Saharan Africa; died on a migrant boat when Malta an Italy failed to properly rescue, survivors pushed bach to Libya; AlarmPhone/ILM/SeaWatch/ oder 08/04/20; N.N. (boy, 16); Afganistan; died after being stabbed in a fight at overcrowded Moria refugee camp on Lesbos (Greece); InfoMigrants/Stonisi.

Durch mit roter Flüssigkeit gefüllte Gläsern wurde die Blutspur vom Train-Denkmal bis zur Liste der Toten gezogen.

In diesem Jahr hat sich die Gruppe das Train-Denkmal als Ort der Mahnwache ausgesucht. Dies, weil derzeit die Regierungen aus Deutschland und Namibia über eine Wiedergutmachung für den inzwischen von der Deutschen Regierung anerkannten Genozid an den Herero und Nama (siehe auch: AKAFRIK zum Abkommen mit Namibia) verhandeln. „Wir sehen eine Blutspur von den Taten der an dem Völkermord beteiligten Soldaten, an die mit dem Train-Denkmal erinnert werden soll, bis hin zu den heutigen Toten, die auf der Flucht starben“, erläuterte Bärbel Harrach. Die Gruppe zeigte schon mehrfach den Zusammenhang zwischen der aktuellen, europäischen Politik und der eigenen deutschen Geschichte auf.

Seit 2014 in Kinderhaus aktiv

Unter dem Projekttitel „Wir müssen reden“ entstand 2014 die Werkstatt Gruppe Politik. Dies, so die Selbstdarstellung der Gruppe, um dem Bedürfnis Ausdruck zu verleihen, die immense Flut an Nachrichten im Negativen wie im Positiven zu sortieren und einzuordnen: „Die gesammelten Informationen über den Schutz unserer Umwelt oder unserer Daten, über Konflikte und Krisen haben uns bewogen, zumindest in einem Bereich auch aktiv zu werden: Wir veranstalten regelmäßig Mahnwachen zum Massensterben vor den Toren Europas.“

Teresa Häuser hat dazu mehrere Infofilme für die Gruppe produziert, die sich mit den Themen „Kolonialismus, Migration und Fluchtgründen“, „Migranten willkommen!?“, „Verschleppung, Flucht und Vertreibung. Vergangenheit in Greven – Gegenwart in Europa“, „Fluchtgründe aus Afrika: Spuren des kolonialen Erbes in Münster“ und der „Mahnwache mit der Liste der auf der Flucht nach Europa verstorbenen Menschen“ aus dem Jahr 2017.

Die Gruppe ist offen für Menschen, die sie aktiv unterstützen wollen. Wer sich per Email anmeldet, wird zu eigenen Veranstaltungen der Gruppe und auch anderen Terminen eingeladen.


Selbstbedienung im Integrationsrat?

Gremium verteilt auf Antrag öffentliche Gelder

Seit über 36 Jahren haben die Migrant*innen in Münster eine eigene politische Vertretung. Am 21. April 1985 wurde in Münster der erste Ausländerbeirat, der Vorgänger des heutigen Integrationsrates (IR), gewählt. Jeweils bei der Kommunalwahl findet auch die Wahl des IR statt. Grundsätzlich wahlberechtigt sind gemäß § 27 der Gemeindeordnung von Nordrhein-Westfalen Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, Deutsche, die die Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung erhalten haben, sowie Menschen, deren Eltern seit acht Jahren rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben und zudem ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzen. In Münster waren bei der IR-Wahl am 13. September 2020 insgesamt 48.168 Menschen stimmberechtigt. 9956 Münsteraner*innen (20,67 Prozent) haben gewählt.

Zur Wahl treten keine Parteien, sondern Listen und Einzelbewerber*innen an. Insgesamt werden 18 Sitze im IR durch diese Wahl besetzt. Weitere neun Sitze werden von Ratsvertreter*innen eingenommen, die vom Rat der Stadt Münster gewählt werden. Die stärksten Gruppen im IR Münster sind die Listen „Internationale Demokraten Münster“ (ID Münster) und „Gemeinsam“, die beide vier Sitze erlangten. Auf drei Sitze im IR kommen die Parteien CDU und Grüne sowie die Listen „Anerkennung für alle Ausländer“ (AAA), „Wir sind Münster“ (WsMS) und „Gleiche Rechte-Vielfalt“.

Wechselnde Mehrheiten sind im Integrationsrat Alltag

Dr. Ömer Lütfü Yavuz

Anders als im Rat der Stadt Münster gibt es keine dauerhafte IR-Koalition. Dies wäre bei sechs Listen und drei Parteien vermutlich auch kaum machbar. Der Integrationsrat wird beratend in alle öffentlichen Vorlagen mit starken Auswirkungen auf Migrant*innen in Münster einbezogen. Zudem gehören IR-Mitglieder beziehungsweise durch ihn gewählte Personen verschiedenen kommunalen Ausschüssen und Gremien in der Stadt an.

Der Integrationsrat bekam durch das hartnäckige Wirken des damaligen IR-Vorsitzenden Dr. Ömer Lütfü Yavuz eine eigene Webseite. Auf dieser Homepage werden folgende eigene Aktivitäten aufgeführt:

  • Zusammenarbeit mit dem Rat und der Verwaltung
  • Weiterentwicklung und Umsetzung des Migrationsleitbildes 2019
  • Unterstützung von Migrantenvereinen und weiteren interkulturellen Akteuren
  • Politische Veranstaltungen
  • Solidarität mit Geflüchteten, Hilfe in bürokratischen Angelegenheiten
  • Kulturveranstaltungen: Feste / Ausstellungen / Lesungen in Muttersprachen / Zusammenarbeit mit Künstlerinnen / Künstlern
  • Teilnahme an Fachtagungen, Seminaren und Weiterbildungsangeboten
  • Zusammenarbeit mit dem Landesintegrationsrat NRW
  • Zusammenarbeit mit Schulen, Hochschulen und Universität

Die Unterstützung der Migrantenvereine und lokalen interkulturellen Akteur*innen ist regelmäßig auf der Tagesordnung des IR zu finden. Selbst im Coronajahr 2020 wurden insgesamt 12.535 Euro als Zuschüsse beschlossen. 27 Antragsteller*innen reichten 39 Anträge ein, die bewilligt wurden. Auf die 20 Antragsteller*innen, die nur einen Zuschuss beantragt hatten, fielen 54,53 Prozent der zur Verfügung gestellten Gelder. Sieben Vereine stellten mindestens zwei Anträge.

Mehr als jeder zehnte Euro ging 2020 an einen Verein

Spitzenreiter bei Anträgen und Bewilligungen ist der Verein AFAQ, ein „Verein für kulturelle und gesellschaftliche Zusammenarbeit“. Dieser Verein ist praktisch mit der Liste „Gemeinsam“ für den Integrationsrat angetreten. Neben Deler Saber, dem Vorsitzenden von AFAQ, ist das Gemeinsam-Mitglied Dr. Georgios Tsakalidis – auch als Beschäftigter – eng in die Vereinführung eingebunden. Die der SPD nahe stehende Beata Arabasz ist häufig bei Veranstaltungen von AFAQ dabei. Auch das vierte IR-Mitglied von Gemeinsam, Noura Brauckmann, sowie weitere Listenmitglieder treten als Vereinsverantwortliche von AFAQ auf.

Verteilung der durch den Integrationsrat Münster im Jahr 2020 bewilligten Zuschüsse an Vereinigungen. (Grafik: Werner Szybalski)

Das ehrenamtliche Engagement dieser vier aktuellen IR-Mitglieder ist sicherlich vorbildlich. Im Zusammenhang mit ihrer Mitgliedschaft im Integrationsrat ist es allerdings pikant, dass AFAQ allein 2020 fünf Anträge mit insgesamt 11,97 Prozent der Fördermittel vom IR bewilligt bekommen hat. Natürlich gilt auch im Integrationsrat, dass befangene Mitglieder über Förderantäge ihres eigenen Vereins nicht mit abstimmen dürfen. Doch auffällig ist es schon, dass wie übrigens auch schon im Jahr 2019 – also vor der Corona-Pandemie – wie aus den veröffentlichen Sitzungsprotokollen des IR hervorgeht, AFAQ mit 900 Euro die höchste Fördersumme für eine Institution durch den Integrationrat erhielt.

Im Jahr 2018, so geht aus den veröffentlichen Sitzungsprotokollen des IR hervor, erhielt der Förderverein Arabische Sprache für fünf Anträge insgesamt 2.400 Euro vom Integrationsrat bewilligt. AFAQ musste sich in dem Jahr mit dem zweiten Platz begnügen. Wie auch der Deutsch-Tamilische Sport- und Sprachentwicklungsverein erhielt AFAQ 2018 immerhin 1.200 Euro.