Neue, gute Bücher

Packender Blick auf das Sportland NRW

Von Werner Szybalski

Der Sportchef der Westfälischen Nachrichten, Alexander Heflik, und der Politikwissenschaftler und Sportfunktionär Michael Schmitz – beide aus Münster – haben sich intensiv mit dem Sportland Nordrhein-Westfalen auseinandergesetzt. Sie haben, offensichtlich über Jahre oder Jahrzehnte, Fakten gesammelt, persönliche Geschichten aus dem Sport in NRW ausgegraben, die Sportpolitik – dies allein beschert dem Buch schon Alleinstellungscharakter – des Bundeslandes mit 17.500 Sportvereinen zwischen Rhein und Weser und mehr als fünf Millionen aktiven Sportler:innen und Sportler sowie über eine halbe Million ehrenamtlich engagierter Menschen im Sport zusammenfassend, aber zu entscheidenden Entwicklungspunkte auch detailreich dargestellt und abschließen auf knapp 120 Seiten alle 54 Stadt- und Kreissportbünde porträtiert.

(Zum Bild oben: Auf Seite 109 in „Sport in Nordrhein-Westfalen“ erfahren die Leser:innen, warum der junge Mann – vorn ganz links – und der Rezensent des Buches (tanzt in der zweiten Reihe von unten, wie eigentlich immer in seinem Leben etwas aus der Reihe, steht aber trotzdem fast im Mittelpunkt) es unter die TOP 250 Sportler:innen und Sportfunktionär:innen beziehungsweise -politiker:innen in NRW und damit in das neue Buch von Alexander Heflik und Michael Schmitz geschafft haben.)

Die beiden Autoren Heflik (SC Nienberge) und Schmitz (Borussia Münster) waren beide aktive und durchaus erfolgreiche Ligaspieler des Westdeutschen Tischtennis-Bundes. Vielleicht können sie deshalb sich die Inhalte ihres gemeinsamen Buches wie Ping-Pong-Bälle hin und her schießen.

Sportpolitik in NRW, Bundesligafußball in NRW, NRW-Sportsgrößen und elektronische Medien sowie Portraits alle Stadt- und Kreissportbünde in NRW

Es geht in den 230 Seiten zunächst um die „Sportpolitik in NRW“, anschließend um die „Geschichte des Landessportbundes von 1947 bis heute“ in der unter anderem alle LSB-Präsidenten gewürdigt werden. Es folgen zwei Kapitel über „Sportabzeichen in NRW: Die deutsche Idrottsmärke“ und über „Die Sportlandschaft NRW – Hochburgen, Stützpunkte und Spielstätten, ehe in zwei weiteren Kapiteln der Sport – nicht nur in NRW – dargestellt wird: „Die Fußball-Bundesliga – die Gründung im Goldsaal“ und Frauenfußball-Bundesliga“. „Größen im Sport in NRW“ und „Sport im Hörfunk und Fernsehen“ folgen, ehe es über die Darstellung der „Selbstorganisation des Sports in NRW“ zu den Beschreibungen der 54 kommunalen Sportbünde des Landes kommt.

Stoff für 500 bis 750 Seiten

„Die größte Herausforderung war es, dieses ungemein große Themenspektrum und die vielen bedeutenden Persönlichkeiten auf 230 Seiten zu komprimieren, da wir auch gut und gerne Stoff für 500 bis 750 Seiten hatten“, bekennen die beiden Autoren aus Münster im Austausch mit dem Rezensenten. Dabei fördern sie Erstaunliches zutage. Trikotwerbung für das „Grüne Buch“ von Muammar al-Gaddafi oder die Vorgeschichte des heutigen Bundesliga-Trainer des VfL Bochum als Polizist.

Sport in Nordrhein-Westfalen. Alexander Heflik / Michael Schmitz; Verlag Aschendorff Münster; Juni 2025; Paperback; 230 Seiten; 24,90 Euro; ISBN 978-3- 402-25060-0. Auch kostengünstig über die Landeszentrale für Politische Bildung bestellbar (Bestellnummer: 2515).

Die neue Sperre ist da

Münsteraner Quartalsmagazin beleuchtet Digitalisierung in der Stadt

Seit inzwischen 39 Jahren beliefert der Verein „Arbeitslose brauchen Medien“ analog und online die Öffentlichkeit in Münster mit kritischen Texten. Seit heute liegt die Frühjahrsausgabe gedruckt vor. In den 36 Seiten geht es um viele aktuelle Themen, die von den der Digitalisierung über Kultur in Ostdeutschland, den vor dem Bauernkrieg verabschiedeten 12 Artikeln, der just 500 Jahre alten Menschenrechtserklärung von unten, bis zum Angebot des Vereins Kulturliste.

„Vom Amt bis ins Malta“ schickt im Vorwort Arnold Voskamp die Sperre-Leserschaft auf Erkundungstour durchs Heft. Er erinnert an sowohl an die Online-Ausgabe als auch an die sonstigen Veröffentlichungen („fast umsonst“ und „Migrationskompass“) des Vereins, der montags, dienstags und donnerstags vormittags ab zehn Uhr im MAltA (Münsteraner Arbeitslosentreff Achtermannstraße) kostenfreie Serviceleistung bei allen Fragen rund um Arbeit, Bewerbung, Lebenslauf und amtliche Formulare insbesondere Sozial-, Wohnungs- und Ausländeramt sowie dem Jobcenter oder der Arbeitsagentur anbietet.

Digital nicht abhängen!

Das MAltA hilft, wenn Menschen keinen oder schlechten Zugang zur digitalen Welt haben, verdeutlicht Arnold Voskamp in der Titelgeschichte „Digital nicht abhängen!“. Infos zum Barrierefreiheitsgesetz („Zugang für alle“) und die Rezension von Peter Schaars „Schöne neue Stadt“ runden das Schwerpunktthema der ersten Sperre-Ausgabe des Jahres ab.

Nach einem Blick nach Coerde von Regina Joffe und Jochen Schweitzer, die die Initiative „Chancen für alle Coerder Kinder“ vorstellen, werden Wege zur Kultur auch für Menschen mit geringem Einkommen aufgezeigt. Denn der Verein „Kulturliste Münster “ sorgt für kostenfreie kulturelle Teilhabe.

Lena Dhaliwal erklärt in „Fit für den Arbeitsmarkt“ wie Menschen, die aufgrund einer Erwerbsminderung vorzeitig im Rentenbezug sind, unschädlich testen können, ob der Wiedereinstieg in die tägliche Arbeit klappen könnte.

Armut für Alle? – „Armut hat System“

Sperre-Redakteur Jan Rinke – der Sperre lesende Mann oben im Bild – hat Sirkka Jendis´ Buch „Armut hat System“ kritisch gelesen. Er findet: „Angesichts der wirtschaftlichen Stagnation und der Herausforderung einer neuen Regierung liefert »Armut hat System« einen notwendige Analyse und drängende Handlungsempfehlung. Es macht deutlich, dass Politik, die Armut ignoriert, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie selbst gefährdet. Ein Buch, das als Pflichtlektüre zur Bewertung der kommenden Sozialpolitik dienen sollte.“

Jan Rinke bespricht in der aktuellen Sperre das Buch „Armut hat System – Warum Deutschland Armut zulässt und was wir dagegen tun können“.

Sascha Lübbe recherchierte für sein Buch „Im System ganz unten“, so ist auf den Folgeseiten der Sperre zu lesen, bei denen, die „von der Gesellschaft allein gelassen“ werden. Das in Münster dies nicht zwingend der Fall ist, macht Regina Offe im Beitrag „Münster auch hier vorne. Teilhabequoten aus dem Bildungs- und Teilhabepaket im Vergleich“ deutlich.

Sehnsucht nach Frieden

Traditionell eng verbunden sind die Sperre-Redakteure mit Rudolstadt-Musikfestival, das Anfang Juli rund 25.000 Menschen in die kleine ostdeutsche Stadt lockt. Sperre-Urgestein Norbert Attermeyer macht auf zwei Seiten Lust auf einen Trip nach Thüringen, wo auch schon mal die Sehnsucht nach Frieden deutlich wird. Den gab es vor 500 Jahren weder in Thüringen noch in weiten Teilen des südlich deutschen Sprachgebietes. Die „12 Artikel“, praktisch die erste Menschenrechtserklärung von unten, führte zum Großen Bauernkrieg mit bis zu 70.000 toten Bauern, Bergknappen, Handwerkern und Städtern, aber auch zu etwas mehr Freiheit nach der Revolution durch den Gemeinen Mann.

Kurzmeldungen und der Dauerbrenner und vielleicht beliebteste Teil der Sperre – die Urteile runden die wieder kostenlose Frühjahrsausgabe von „Münsters Magazin für Arbeit, Soziales & Kultur“ ab.

Zwei politische Beiträge fielen raus

Zwei Artikel fielen nach einer Abstimmung (6 Nein, 2 Ja, ein Enthaltung) in der Redaktionssitzung wegen ihrer politischer Inhalte aus dem Heft. „Münster könnte Vorzeigestadt werden“ und „Verändern – egal, ob in der Opposition oder Regierung!?“ sind online aber zu finden.

Überwachungsalbtraum Smart Cities?

Peter Schaar untersucht Chancen und Risiken smarter Technik in unseren Städten

Eine Rezension von Werner Szybalski

Der langjährige Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit in Deutschland (BfDI), Peter Schaar, hat sich im Buch „Schöne neue Stadt“ kritisch mit dem möglichen „Überwachungsalptraum Smart Cities“ auseinandergesetzt. Die intelligente Stadt, vollgepackt mit moderner Technik und umfassend digitalisiert ist ein Traum nicht nur vieler Kommunalpolitiker*innen. Doch ist die Smart City wirklich erstrebenswert? Wie sieht es mit einem effektiven Datenschutz aus? Wie kann die totale Vermarktung der in der Stadt gesammelten Daten durch kommerzielle Nutznießer verhindert werden? IAntworten gibt Peter Schaar auf 180 Seiten.

Die Stadt ist schon der beliebteste Wohnort der Menschen und gewinnt trotzdem weiter an Anziehungskraft. Doch das urbane Leben ist im Wandel. Dafür ist auch die Digitalisierung verantwortlich, denn zum Beispiel Geschäftsstellen von Banken verschwinden oder Kaufhäuser gehen pleite. Die Folge: Innenstädte veröden und werden unattraktiv. Zugleich versprecht die Digitalisierung eine paradiesisch anmutende Zukunft mit Flugtaxis und Hyperloops, die alle Verkehrsprobleme lösen, mit Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung, die komplett online abgewickelt werden, und der Lösung der urbanen und damit auch globalen Klima- und Umweltprobleme durch ausgefuchste und perfekt vernetzte moderne Digitaltechnologien.

Wer möchte in Songdo leben?

Städte, so Schaar, wurden durch technische Innovationen schon immer stark geprägt. Doch die Digitalisierung hebt manche Vorteile der Stadt auf: Moderne Kommunikation sowie Homeoffice, Telearbeit und Onlinebestellungen benötigen nicht zwingend eine Stadt. Deshalb beschränken sich Smart Cities nicht auf unveränderliche Digitalisierung bisheriger analoger Prozesse, sondern entwickeln neue Umgangsformen und -methoden.

Digitale Träume in Beton sind rund 30 Kilometer westlich von Seoul in der zwischen 2003 und 2010 neu errichteten südkoreanischen Stadt Songdo zu erleben. Vom Flughafen geht es über eine zwölf Kilometer lange an Stahlseilen aufgehängte Autobahnbrücke in Richtung einer atemberaubenden Skyline – bestehend aus sechs jeweils über 150 Meter hohen Central Park Towers und den 11 Milliarden US-Dollar teuren und die anderen Häuser um das Doppelte überragenden North East Trade Tower.

Ein privates amerikanisches Unternehmen übernahm die Vernetzung der Gebäude, die Installation der Smart-Home-Systeme in den Wohnungen und Geschäftshäusern, die Verkehrssteuerung, die flächendeckende Video- und Audioüberwachung und die automatisierte Auswertung der dabei gewonnenen Daten. „Der öffentliche Raum wird in Songdo rund um die Uhr überwacht. An jeder Straße jeder Ampel, jedem Fußgängerüberweg und auch in den Tiefgaragen sorgen Tausende Videokameras dafür, das Stadtgeschehen und das Verhalten der Bewohner flächendeckend aufzuzeichnen. Neben den Kameras sind in Songdo überall auch Mikrofone [und Lautsprecher] installiert“, (Schaar, Seite 47) so dass Mitarbeiter der Einsatzzentrale Menschen überall in der Stadt ansprechen können. Laut Peter Schaar ist das Versprechen der Stadtverwaltung, umwelt- und klimagerechte Lösungen zu haben, nicht richtig. „Die offensichtlichen Schattenseiten von Songdo machen die Stadt zu einem lehrreichen Beispiel dafür, wie die Stadt der Zukunft nicht aussehen sollte. Moderne Städte sollten menschengerecht, nachhaltig und partizipativ sein, nicht technokratisch, kommerziell orientiert und fremdgesteuert. Sie sollte offen sein für unterschiedliche Lebensentwürfe und kulturelle Aktivitäten. Ihre Verwaltung und politische Meinungsbildung sollte dem Prinzip der Transparenz folgen und digital erhobene Daten der Gesellschaft zur Verfügung stellen.“ (Schaar, Seite 51f)

Städte können von Digitalisierung profitieren

Weitere Städte, die Schaar untersucht hat, sind unter anderem die „Google-Stadt Waterfront Toronto“ oder das von Munizipalisten regierte Barcelona, wo er auch viele positive Beispiel für digitale Anwendungen in Städten findet. Eine von ihm gelobte Plattform für öffentliche digitale Beteiligungsformen ist „decidim.org“.

Die deutschen Smart Cities Hamburg, München und Leipzig erreichen durch „Urbane Digitale Zwillinge (UDZ)“, bei denen aus den gesammelten Daten ein digitaler Zwilling der Kommune geschaffen wird, erleichtern insbesondere die Stadtplanung. Dresdens KI-gesteuerte Analyse der Hitzeinseln in der Stadt wird von Schaar ebenso positiv dargestellt wie der digital unterstütze Bürgerhaushalt in Treptow-Köpenick (Berlin) oder die „Siemensstadt 2.0“ in Spandau.

Beim „Internet of Things“, der Big-Data-Auswertung durch KI und insbesondere in der Informationssicherheit und dem Datenschutz sieht Peter Schaar, bei einem ehemaligen hauptamtlichen Datenschützer wenig verwunderlich, große Probleme und verlangt Transparenz und eine demokratische Kontrolle.

Fazit meiner Lektüre: Ein packendes Buch für alle Menschen, die sich für unser städtisches Leben von morgen interessieren und vielleicht unsere kommunale Zukunft aktiv mitgestalten wollen.

Peter Schaar: Schöne neue Stadt – Überwachungsalbtraum Smart Cities?; Verlag S. Hirzel; Stuttgart 2024; 176 Seiten; 24 Euro; ISBN 978-3-7776-2887-5; leider nicht in der Stadtbücherei Münster ausleihbar.

„Ossi“-Identität ist generationenübergreifend stabil

Steffen Mau auf der Suche nach den Ursachen der ungleich vereinten Deutschen

Länger als eine Generation ist die einzige erfolgreiche Revolution in Deutschland schon her. Aus dem Aufbegehren mutiger, kritischer und überwiegend antiautoritär denkender Menschen wurde die Deutsche Demokratische Republik (DDR) schließlich von Menschen mit Hoffnung auf ein westlich-konsumorientiertes Leben abgeschafft. Der Soziologe Steffen Mau von der Humbolt-Universität Berlin, ein gebürtiger Rostocker des Jahrgangs 1968, hat jüngst untersucht, warum fast 35 Jahre nach der Revolte noch immer ein großer Unterschied zwischen Menschen im Osten, also den gelegentlich noch immer „neue Bundesländer“ genannten Regionen, und den Bewohner*innen der alten Bundesrepublik gibt.

Von blühenden Landschaften im Gebiet der ehemaligen DDR fantasierte damals der Bundeskanzler der Wiedervereinigung: Helmut Kohl von der bei der ersten Wahl im wiedervereinigten Deutschland erfolgreichen CDU. Aus seinen Versprechungen wurde bekanntlich nichts und heute machen die mit viel Westgeld (u. a. Solidaritätszuschlag) und EU-Förderung aufgemöbelten ostdeutschen Bundesländer eher Schlagzeilen mit überdurchschnittlichen Wahlergebnissen für die rechtsradikale AfD und breitem Bekenntnis zum neugegründeten Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) und deren Nähe zu Russland.

Bleibende Unterschiede

Der Wissenschaftler Steffen Mau analysierte die Unterschiede zwischen den wiedervereinten Deutschen in Ost und West. In seinem Buch „Ungleich vereint – warum der Osten anders bleibt“ nutzt er zur Erklärung, warum dies auch noch eine Weile so bleiben wird,den Begriff der „Ossifikation“. Dieser medizinische Begriff, der„Knochenbildung“ oder „Verknöcherung“ beschreibt, war schon vor über 20 Jahren von der damaligen PDS-Bundestagsabgeordneten Angela Marquardt in die Diskussion gebracht worden. Tatsächlich ergäbe er aber erst heute erkennbaren Sinn, weil auch die Nachwendegenerationen sich über ihr „ostdeusch sein“ definierten.

Eine seiner wesentlichen Erkenntnisse ist, dass es in vielen für die Einstellung und das Empfinden der Menschen entscheidenden Kategorien – von Wirtschaft über Politik bis hin zu Mentalität und Identität – „bleibende Unterschiede“ zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands gibt. Aus dieser Trennung sei auch der „Ossi“ begrifflich entstanden, dem tatsächlich in den alten Bundesländern keine „Wessi“-Identität gegenüberstünde.

Ostdeutschland sei im Gegensatz zum Westen ein „Land der kleinen Leute“ und leide unter anderem auch an „dramatischer Elitenschwäche“. Aus diesen realen Unterschieden sei ein neues „Ostbewusstsein“ entstanden, wie auch die Menschen in den Stadien und Arenen durch „Ostdeutschland, Ostdeutschland“-Rufe immer wieder lautstark verdeutlichen. Einerseitswürde auf die Familiengeschichte der Ostdeutschen zurückgeblickt und andererseits würde aus dem erlebten innerdeutschen Benachteiligung ein „Oststolz“ entwickelt, der sicherlich auch von nicht unerheblichen Trotz getragen sei. Mau will auch nicht ausschließen, dass es sogar Parallelen zum Phänomen der „Rekulturalisierung“ gibt, wie sie bei Angehörigen der zweiten und dritten Generation von Migranten vorkommen. Die Nachkommen sind sensibler für Diskriminierungen als ihre Eltern und Großeltern und treten gleichzeitig erheblich selbstbewusster auf. Das Bekenntnis „ostdeutsch“ zu sein, trägt zugleich die Forderung nach Gleichstellung und Anerkennung in sich. So ist für Steffen Mau klar, dass sich der Osten dem Westen, zumindest in nächster Zeit, nicht annähern wird, denn so Steffen Mau, es habe „jenseits ungleicher ökonomischer Bedingungen“ ein „eigenständiger Kultur- und Deutungsraum Ostdeutschland“ herausgebildet.

Mangelnde Bindung an Parteien und Institutionen der Bürgerschaft

Steffen Mau verweist auf die geringe Bindung der Menschen in Ostdeutschland an Parteien und Institutionen der Zivilgesellschaft. So seinen von 100 Wähler*innen weniger als einer Mitglied einer Partei. Zudem ist die ostdeutsche Parteienlandschaft, wie auch viele Landkreise durch den großen Männerüberschuss, sehr maskulin geprägt. 80 Prozent der Parteimitglieder seien Männer.

Warum die CDU in Ostdeutschland besser dasteht als die Ampelparteien, ist für Steffen Mau ganz klar: Die CDU hat aus der DDR die Blockflötenpartei übernommen. Dies war SPD oder den Grünen nicht möglich. Da sie erste Wahlsiegerin war, baute sie auch örtliche Strukturen aus oder auf, was ihr zu der heutigen Größe verhalf. Die FDP erreichte mangels sozialer Oberschicht und breiter beruflicher Selbständigkeit in der Arbeitnehmergesellschaft im Osten, dem „Land der kleinen Leute“, keine Bedeutung.

Anders sieht das bei der AfD aus, die sich als „Kümmerer-Partei“ vor Ort engagiert und den Unwillen der Menschen aufnimmt, die sich von denen da oben, was zumeist mit Merkel oder Ampel übersetzt wurde und wird, nicht repräsentiert fühlen. Die faschistoide Ausrichtung vieler aktiver AfDler berührt die Menschen wenig, offensichtlich auch wegen ihrer Ferne zur parlamentarischen Politik und ihren Mandatsträger*innen. Da sollen es doch für rund ein Drittel der ostdeutschen Wahlberechtigten auch „die“, gemeint ist die AfD und inzwischen auch das Bündnis Sarah Wagenknecht, einmal an der Regierung versuchen dürfen.

„Labor der Partizipation“ – basisdemokratische Elemente als Lösung

Steffen Mau analysiert bezüglich der Parteienbindung und den Institutionen der Zivilgesellschaft ebei vielen Menschen in Ostdeutschland ein großes Defizit. Wie oben in der „Verfestigungsthese“ beschrieben, wirkt in Ostdeutschland die „Geschichte in Strukturen und Identitäten nach“ (familiären Wohlstand, Geschlechterverhältnis, unzureichende Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Grundlagen der SED-Diktatur). Mau hält die Ostdeutschen nicht für antidemokratisch oder politikverdrossen. Allerdings sei diese politische Kultur durch eine vor, um und nach 1989 spezielle „Parteienpolitikverdrossenheit“ gekennzeichnet, der, so Mau, mit konkreten, experimentierfreudigen Antworten aus dem „Labor der Partizipation“ begegnet werden könne oder auch müsse.

Als Lösungsansatz schlägt er eine leichtere Teilhabe der Menschen zum Beispiel durch starke Bürgerräte vor. Dadurch erhofft sich der Berliner Soziologe den Abbau der empfundenen Politikferne, wenn die Menschen oder ihre Nachbarn in Bürgerräten selbst (mit-)entscheiden dürften. Die „Ertüchtigungsmaßnahmen der Demokratie“ will Mau allesamt „von unten“ verwirklicht haben.

Auch verweist Steffen Mau darauf, dass „immer mehr Landräte und Bürgermeister nicht parteigebunden sind und über Wählerinitiativen ihr Amt“ erobern. Dies gemeinsam wirft die Frage auf, warum Mau, in dem sehr lesenswerten Buch, nicht auch Vergleiche zu den Auslösern der Revolution von 1989 und ihren basisdemokratischen und antiautoritären Zielvorstellungen, die sich insbesondere in „Runden Tischen“ zeigten, verfolgt. Vielleicht zeigt sich im Osten, insbesondere wenn die Nichtwähler einbezogen werden, eine zunehmende Ablehnung der Stellvertreterpolitik, wie sie in der DDR, aber auch heute – mit echten Wahlen ausgestattet – noch immer besteht. Doch noch gibt es außer lokalen Initiativen, die kaum zusammen arbeiten könnten, keine Bewegung oder Gruppe, die die (basis-)demokratischen, anti-autoritären und auf Selbstbestimmung ausgelegten Menschen abholt. Deshalb dürfte Mau recht behalten, dass die heutige Situation sehr fest sei.

Steffen Mau: Ungleich vereint; Berlin; Suhrkamp; 2024; 178 Seiten; 18 Euro; ISBN 978-3-518-02989-3; ausleihbar in der Hauptstelle und der Zweigstelle Gievenbeck-Auenviertel der Stadtbücherei Münster: Signatur EMP 4 MAU.

Saito favorisiert den „Degrowth-Kommunismus“

Philosoph befreit Marx vom Marxismus

Eine Buchbesprechung von Werner Szybalski (zuerst erschienen in der Sperre Ausgabe: Winter 2023)

Überraschend hielt sich „Systemsturz“ über Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste – ein Buch des japanischen Philosophieprofessors Kohei Saito. Er hat in Berlin studiert und dort sein Interesse an den Arbeiten von Karl Marx entdeckt. Saito beschäftigt sich insbesondere mit Notizen und Entwürfen des späten Karl Marx, die bislang nicht oder nur teilweise veröffentlicht wurden. Dabei befreit er Karl Marx – zumindest dessen Spätwerk vom traditionellen Marxismus. Saitos Forschungstätigkeit ist so relevant, dass er in den Herausgeberkreis von MEGA, der „Marx-Engels-Gesamtausgabe“, berufen wurde.

Schon 2016 veröffentlichte Kohei Saito seine Studie „Natur gegen Kapital“ mit dem Untertitel „Marx‘ Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus“ (Campus-Verlag, 328 Seiten, 39,95 Euro, ISBN 978-3-593-50547-3), in der er aufzeigte, dass Karl Marx durch Studien von Justus von Liebig und anderen Naturwissenschaftlern die Verletzlichkeit der Natur erkannte.

„Es wird immer klarer, dass der Kapitalismus sein Fortschrittsversprechen nicht einlösen kann“, sagte Saito im Oktober dem österreichischen Magazin „Tagebuch“, weshalb Marx und seine Kritik wieder auf die Tagesordnung gehöre. Allerdings, so Saito, „aus einer neuen Perspektive, einerseits aus der der Ökologie und andererseits aus der des Degrowth.“ [Verringerung von Konsum und Produktion]

Im „Systemumsturz“ zeigt der Autor nun auf, dass es in der akuten ökologischen Krise nur vier Perspektiven für die zukünftige Gesellschaft – alle ohne Kapitalismus – gäbe. Die Möglichkeiten einer klimagerechten Zukunft beschriebt Kohei Saito anhand der Stränge „Autorität“ und „Gleichheit“ (siehe Grafik rechts aus dem Buch von Saito). Mit autoritärer Regierungsform gäbe es bei großer Ungleichheit den „Klima-Faschismus“ beziehungsweise bei besonders geringer Ungleichheit den „Klima-Maoismus“. Bei schwacher Autorität in der Gesellschaft und hoher Ungleichheit entstünde „Barbarei“. Nähert sich die Gesellschaft der Gleichheit an, was Saito ebenso bevorzugt wie die schwache Autorität, und damit eine demokratische Gesellschaft, dann bliebe als Lösung für alle Zukunftsfragen nur der „Degrowth-Kommunismus“.

Kohei Saito grenzt seine Vorstellung des egalitären und nachhaltigen „Degrowth-Kommunismus“ allerdings sowohl von den aktuellen Degrowth-Debatten ab, die den Kapitalismus bei individuellem Verzicht und unter verstärktem Einsatz moderner, umweltschonender Techniken (so genannter „Grüner Kapitalismus“) für reformierbar halten, als auch vom bürokratischen Kommunismus, wie er in der Sowjetunion bestand oder derzeit in China proklamiert wird. Dies begründet er mit den Forschungen des „alten Marx“, der sich nach Auffassung von Saito von seinen früheren Überlegungen (und Veröffentlichungen) wie dem „Produktivismus“ (bestehend aus Wirtschaftswachstum, Marktwirtschaft und Freihandel) oder dem „eurozentristischen Geschichtsbild“ abgewendet habe.

Die zum Produktivismus gehörende Theorie, dass der Weg zum Sozialismus zwingend über eine zuvor kapitalistische Gesellschaft führe, habe Marx 1881 im Brief an die Russin Vera Sassulitsch ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt, schreibt Saito: Marx habe dabei insbesondere an die russischen Dorfgemeinschaften („Mir“) gedacht, die sich unter anderem durch periodisch neu unter den Dorfbewohner*innen verteilten Grund und Boden auszeichneten.

Besonders betont Kohei Saito, dass sich Karl Marx ab zirka 1850 klar zum Antikolonialismus bekannt habe. Der noch heutige Zustand, dass der Kapitalismus sich nur reproduzieren kann, weil er die benötigten natürlichen Ressourcen mehrheitlich aus den Ländern des globalen Südens bezieht und zugleich die Kosten seiner Produktion zum Beispiel in Form von Abfällen dorthin auslagert. Die Beendigung dieser Ausbeutung sei zentral für die Beendigung der kapitalistischen Reproduktion, so Saito. Im globalen Süden befänden sich zudem auch heute noch die vorkapitalistischen, also indigenen Gemeinschaften, von deren Umgang mit der Natur die Menschen im Norden viel lernen könnten.

Seit 1868 habe Marx nicht nur über Naturwissenschaften, sondern auch über Kommunen geforscht. Beide Forschungsgebiete stünden in engem Zusammenhang und Marx sei zu der Erkenntnis gelangt, dass entscheidend für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur das Gemeineigentum an Produktionsmitteln und deren gemeinschaftliche Verwaltung sei. Nur so könne ausgeschlossen werden, dass sich private Interessen durchsetzen und Mitglieder der Gemeinschaft ausgeschlossen und enteignet würden, so eine der Analysen im lesenswerten Buch von Kohei Saito.

Kohei Saito: Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. Aus dem Japanischen von Gregor Wakounig. München: dtv, 2023. 320 Seiten, 25 Euro, ISBN 978-3-423-28369-4.