Das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung Münster ruft für den 23. Oktober 2021 zu einer bunten Demonstration für das Recht auf selbstbestimmte Familienplanung und Sexualität sowie für das Recht auf einen legalen und sicheren Schwangerschaftsabbruch auf. Die Demo beginnt um 13:30 Uhr am Hauptbahnhof Münster. Außerdem gibt es ab 15 Uhr eine Kundgebung am Prinzipalmarkt mit Redebeiträgen und Livemusik.
Demonstration am Samstag (23. Oktober)
Am selben Tag planen Abtreibungsgegner*innen eine Demonstration durch Münster. Der sogenannte 1000-Kreuze-Marsch vereint christlich-fundamentalistische Gruppen, Mitglieder der AfD und andere ultra-konservative Organisationen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Frauen das Recht absprechen, selbst über ihren Körper zu bestimmen. Sie stellen Schwangerschaftsabbrüche als unmoralisch und sogar als Mord dar und fordern das Verbot von Abtreibungen und die Bestrafung von Betroffenen und Ärzt*innen, die Abbrüche durchführen.
Für sexuelle Selbstbestimmung und gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen
Bündnissprecherin Christine Schmidt: „Gerade in diesem Jahr, das unter dem Zeichen von 150 Jahren Widerstand gegen §218 StGB steht, wollen wir uns laut für sexuelle Selbstbestimmung und gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen aussprechen! Mit unserem Protest setzen wir ein Zeichen gegen eine antifeministische und rückwärtsgewandte Einstellung, für die der 1000-Kreuze-Marsch als Teil der Anti-Choice-Bewegung steht. Diese drangsaliert seit vielen Jahren in der ganzen Republik Frauenberatungsstellen und Ärzt*innen, verbreitet verzerrende Informationen zum Schwangerschaftsabbruch, lobbyiert für die Rückkehr zu traditionellen Geschlechterrollen und lehnt oft auch Scheidung, Verhütung und die Akzeptanz von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt ab.”
Streichung der §§ 218 und 219
Schmidt weiter: „Mit der Kundgebung fordern wir die Streichung der §§ 218 und 219 aus dem Strafgesetzbuch, eine ausreichende medizinische Versorgung für Schwangere und für Personen, die eine Schwangerschaft abbrechen lassen möchten, den kostenlosen Zugang zu Verhütungsmitteln, soziale und ökonomische Unterstützung für alle, die sich für ein Kind entscheiden und eine Sexualaufklärung, die es allen ermöglicht, sich in sexueller Selbstbestimmtheit zu entwickeln.“
Am Donnerstag (20. Mai 2021) musste sich der Nottulner Gynäkologe Detlef Merchel vor dem Amtsgericht Coesfeld für seine aufklärerischen Informationen auf der Webseite seiner Praxis zum Schwangerschaftsabbruch verantworten. Die Staatsanwaltschaft warf dem Arzt, der in seiner Praxis auch Schwangerschaftsabbrüche vornimmt, vor, mit den Information über die von ihm angewandten Methoden gegen den § 219a des Strafgesetzbuches (Verbot der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch) zu verstoßen. „Früher durfte ich informieren, aber nicht schreiben, dass ich es mache. Heute darf ich schreiben, dass ich es mache, aber nicht informieren“, zitieren die Westfälischen Nachrichten den Frauenarzt, der sich mit dieser Situation nicht zufrieden gibt. Deshalb lehnte er die Einstellung des Verfahrens gegen Auflagen ab – er wollte ein Urteil. Dieses bekam er. 20 Tagessätze à 150 Euro, also 3000 Euro, soll Detlef Merchel zahlen. Ob er und sein Münsteraner Anwalt Wilhelm Achelpöhler das Urteil akzeptieren, entscheidet sich in der Woche nach Pfingsten.
Solidarität mit Merchel – 70 Demonstrant*innen vor dem Amtsgericht
Gynäkologe Detlef Merchel aus Nottuln.
Rund 70 Menschen versammelten sich am Donnerstagvormittag schon eineinhalb Stunden vor Prozessbeginn vor dem Amtsgericht Coesfeld, um ihre Solidarität mit Detlef Merchel zu bekunden und um für die Abschaffung der Paragrafen 218 und 219 StGB zu demonstrieren.
Detlef Merchel freute sich über die breite Unterstützung. Unter anderem das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, Die Linke Coesfeld, Frauen e.V. Kreis Coesfeld, pro familia Münster (und aus anderen Orten), die Grünen Nottuln, der Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V. (AKF), die Jungen Liberalen Münster, die Kritischen Mediziner*innen Münster und viele Feminist*innen zeigten in Coesfeld Flagge.
In den Redebeiträgen vor dem Amtsgericht wurde von Vertreterinnen aus Politik und Praxis die Existenz des § 219a StGB deutlich kritisiert wurde. Dessen Abschaffung wurde von der Demonstration gefordert. Viele juristische, medizinische und feministische Organisationen möchten das Verbot über die angebotene medizinische Leistung des Schwangerschaftsabbruchs und die zur Anwendung kommenden Methoden zu informieren, gekippt wissen. Redner*innen dankten Detlef Merchel und auch den in anderweitigen Verfahren verfolgten Ärztinnen Kristina Hänel und Bettina Gaber für ihren Mut und ihre Zivilcourage. Beide standen schon wegen einer §219a-Anklage vor Gericht. Auch sie wurden verurteilt, kämpfen aber auch juristisch noch weiter.
Weg mit dem § 219a, damit Schwangere sich informieren bekommen, wurde in Coesfeld gefordert. (Fotos: Werner Szybalski)
Verfassungsbeschwerde ist in Karlsruhe eingereicht
Kristina Hänel, die ebenfalls wegen § 219a verurteilt wurde und gegen den Paragraphen Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingereicht hat, ließ in Coesfeld ein Grußwort verlesen. „Unfassbar“ sei es, so Hänel, dass Mediziner*innen in Deutschland von hohen Geldstrafen und sogar Gefängnis bedroht seien, nur weil sie nach ihrem Berufsverständnis und Ethos handelten und ihrem Aufklärungsauftrag nachkämen.
Vertreterinnen von pro familia berichteten von den negativen Folgen des Gesetzes für die Beratungspraxis: Immer weniger Ärzt*innen erklärten sich bereit, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, und Patient*innen könnten sich nicht gut informieren.
Die grüne Landtagsabgeordnete Josefine Paul aus Münster und Sonja Krämer-Gembalczyk vom Kreisverband der Linken in Coesfeld sprachen sich auf der Kundgebung für die Streichung des § 219a StGB aus.
Ärzt*innen und ungewollt Schwangere leiden unter dem § 219a.
Christine Schmidt, Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung Münster
Für das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung Münster kritisiert Sprecherin Christine Schmidt das Coesfelder Urteil: „Ärzt*innen und ungewollt Schwangere leiden unter dem § 219a. Es wird Zeit, das Klima der Stigmatisierung, die Kriminalisierung des Abbruchs und die schlechte Versorgungslage zu beenden. Dafür demonstrieren wir nicht nur hier in Coesfeld, sondern notfalls auch in Karlsruhe.“
Auf dem Radweg vor dem Amtsgericht versammelten sich die Demonstrant*innen.
Berufung oder Revision ist möglich
„Wir haben noch nicht entschieden, ob wir Berufung oder Revision beantragen werden. Wahrscheinlich legen wir aber zunächst Rechtsmittel ein, um so die Zeit für die einzureichende Begründung hinzuzugewinnen“, erklärte mir gegenüber der Münsteraner Rechtsanwalt Wilhelm Achelpöhler. Er hatte in der Verhandlung damit argumentiert, dass „Verbreitung der Wahrheit nicht bestraft werden kann.“ Schließlich sei die Kenntnis der Wahrheit die Voraussetzung von Freiheit. Um eine Entscheidung treffen zu können, müssten ungewollt schwangere Frauen die Möglichkeit zur Information haben. Anders könnten diesee ihr Persönlichkeitsrecht, zu dem auch die Durchführung eines nicht strafbaren Schwangerschaftsabbruchs gehöre, kaum wahrnehmen.
Die Berliner Tageszeitung „taz“ schrieb zum Prozess in Coesfeld: „Mit dem Urteil folgt das Gericht im Münsterland der Linie von zwei Urteilen höherer Instanzen in Berlin und Frankfurt / Main aus jüngerer Vergangenheit. Die dortigen Richter*innen hatten bejaht, dass Ärzt*innen nach Paragraf 219a verbotene „Werbung“ betreiben, wenn sie auf ihrer Homepage mitteilen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, darüber hinaus aber auch weiterführende Informationen liefern. Ersteres ist seit der Reform des Paragrafen im Jahr 2019 erlaubt, letzteres nicht.
Beim Verfahren gegen die Berliner Gynäkologin Bettina Gaber hatten die Worte „medikamentös“ und „narkosefrei“ als solch eine zusätzliche Information für eine Verurteilung gereicht. Auch das Oberlandesgericht Frankfurt urteilte im Revisionsverfahren gegen die Ärztin Kristina Hänel, dass nach der Reform des Paragrafen 219a solche sachlichen Informationen nicht mehr gestattet seien.
Rund 200 Demonstrant*innen beim „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“
Am Samstagnachmittag demonstrierten rund 200 Menschen auf der Stubengasse in Münster für die Abschaffung des § 218 StGB und das Selbstbestimmungsrecht der Menschen mit Uterus. Eingeladen hatte das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“, zu dem unter anderem die SPD Münster, die Grünen Münster, die Linke Münster, die Jusos Münster, der SDS Münster, Kaktus Münster, die Linksjugend Münster, die FDP Münster, die Münsterliste, der DGB Stadtverband Münster, der GEW Stadtverband Münster, Frauen helfen Frauen e.V., der Deutscher Ärztinnenbund Gruppe Münster, der pro familia Landesverband NRW, die Kritischen Jurist*innen Münster, der Lesbische Kulturverein Livas e.V. , der Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V., der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten Landesverband NRW, der Tierrechtstreff und Fossil Free Münster sowie Cinema & Kurbelkiste Münster gehören.
In den Redebeiträgen der Vertreter*innen des Bündnisses und von pro familia, Volt Grünen, Linken und Jungen Liberalen wurde die Liberalisierung und auch die Entkriminalisierung gefordert. Mehrere Rednerinnen verwiesen auf eine humanere Lösung in anderen EU-Staaten. Insbesondere die Niederlande wurden als fortschrifttlicher und auch als Beispiel für Deutschland angeführt. Die Liedsängerin Hanna Meyerholz rahmte die Redebeiträge ein.
Rund 200 Demonstrant*innen versammelten sich am Samstag auf der Stubengasse in Münster, um gegen den § 218 StGB und für Selbstbestimmung einzutreten. (Fotos: Werner Szybalski)
Aktionen in 40 Städten
Münster war am Samstag Teil eines bundesweiten Aktionstages anlässlich der eher traurigen Anlasses „150 Jahre § 218“. Am 15. Mai 1871 wurden die Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch im ersten Reichsstrafgesetzbuch verankeret. Noch heute, Generationen später, sind Schwangerschaftsabbrüche nach §218 StGB eine Straftat, die in Deutschland nur bei bestimmten Voraussetzungen grundsätzlich strafrechtlich nicht verfolgt werden.
„Die Regelung im Strafgesetzbuch entmündigt Betroffene und verweigert ihnen eine würdevolle, selbstbestimmte Entscheidung. Auch die medizinische Versorgungssituation wird immer kritischer, da immer weniger Ärzt*innen Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Ärzt*innen dürfen zudem auf ihren Websites nicht ausführlich über Schwangerschaftsabbrüche informieren, weil der Paragraf 219a StGB dies verbietet. Wir rufen die Politik auf, die Streichung von § 218, § 219 und § 219a aus dem Strafgesetzbuch und eine Neuregelung des Rechts auf einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch in ihren Wahlprogrammen zu verankern“, verdeutlicht das Bündnis auf ihrer Webseite.
Vor der Kundgebung hatten Passant*innen die Gelegenheit sich auf Schautafeln historische Fakten über 150 Jahre Widerstand gegen § 218 zu informieren. Die aussagekräftigen Tafeln beleuchteten den Eingriff in die Selbstbestimmung von Menschen mit Uterus vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, das NS-Regime, die DDR bis hin zur Neureglung der gesetzlichen Grundlage der Abtreibung in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Schautafeln standen den Passant*innen auf der Stubengasse zur Verfügung, um sich bei einem Gallery Walk über 150 Jahre Widerstand zu informieren.
§ 219a bringt Nottulner Gynäkologe vor Gericht
Am Donnerstag, dem 20. Mai, verhandelt das Amtsgerichts Coesfeld über einen Verstoß gegen den § 219a StGB, der Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft unter Strafe stellt. Der Staat will Menschen, die „Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs“ öffentlich bewerben mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestrafen. Auch der Hinweis „auf Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind“ kann so bestraft werden. Der praktizierende Gynäkologe Dr. Detlef Merchel will dieses Verfahren, weshalb er auch vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung unterstützt wird.
Solidaritätskundgebung am Donnerstag in Coesfeld
Die Münsteraner*innen rufen zur Solidaritätskundgebung auf: „Wie zahlreiche Ärzt*innen vor ihm ist nun auch der in Nottuln praktizierende Gynäkologe Dr. Detlef Merchel wegen Verstoßes gegen § 219 a angeklagt. Und das nur, weil er auf seiner Website seine Patient*innen darüber informiert, mit welchen Methoden und unter welchen Bedingungen er Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Am Donnerstag, den 20.05. findet vormittags am Amtsgericht Coesfeld die Verhandlung statt. Wir vom Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung veranstalten ab 9.30 Uhr vor dem Amtsgericht Coesfeld eine Solidaritätskundgebung. Der Prozess ist eine große Ungerechtigkeit und ein weiterer Beweis, dass der § 219a das Leben von Ärzt*innen und Patient*innen schwerer macht. Immer weniger Mediziner*innen entschieden sich dafür, einen Abbruch anzubieten, weil sie Angst haben müssen, verklagt zu werden – und ungewollt Schwangeren ist es verwehrt, sich eigenständig zu informieren. Daher werden wir Dr. Merchel mit unserer Kundgebung unsere Solidarität ausdrücken. Lasst und gemeinsam einmal mehr die Abschaffung des § 219a fordern!“