„Von der Gesellschaft allein gelassen“

Sascha Lübbe recherchiert „ganz unten im System“

Den „Unsichtbaren“ in unserem Wirtschaftssystems spürte der Berliner Journalist Sascha Lübbe nach. Ursprünglich geplant für eine Reportage der Tageszeitung (taz) recherchierte Lübbe in drei Branchen, wie die Menschen „ganz unten im System“ ihr Geld verdienen und wie sie in Deutschland leben. Obwohl diese Arbeiter*innen in der Öffentlichkeit häufig zu sehen sind, denn sie sitzen hinter dem Lenkrad des Lkw, den ich auf der Autobahn überhole, malochen auf den Baugerüsten in unserer Innenstadt, kommen aus dem Fabriktor der Fleischindustrie oder stehen am Bahnhof oder Kiosk in Gruppen zusammen, um die wir schnell einen Bogen machen.

Der Lebenswirklichkeit dieser prekär beschäftigen Menschen ohne deutschen Pass ist Sascha Lübbe in seinem Buch „Ganz unten im System“auf der Spur. Der legendäre Günter Wallraff, der ab 1983 zwei Jahre in die Identität des türkischen Gastarbeiters „Ali Levent Sinirlioğlu“ schlüpfte, decken undercover „ganz unten“ die harten bisweilen auch unmenschlichen Arbeitsbedingungen für Migrant*innen im Deutschland der 80er Jahre auf. Mit den Mitteln des Journalismus bringt hingegen Sascha Lübbe mit seinen Reportagen Licht in die dunkele Wirklichkeit der heutigen Arbeitswelt für Ausländer*innen im extremen Niedriglohnsektor Deutschlands.

Ausbeutung für niedrige Preise im Supermarkt

Die Reportagen („Auf dem Bau“, „Im Schlachthaus“, „Auf der Autobahn“) von Lübbe aus Frankfurt (Baubranche), Ostwestfalen (Umfeld der Tönnies-Fleischfabriken) oder Brandenburg (LKW-Fahrer) geben kaum erträgliche Einblicke in eine Wirklichkeit, die die Gesellschaft eigentlich nicht wahrhaben will. Dies insbesondere, da auch für unser Leben die Ausbeutung von ausländischen Menschen bedeutsam ist. Schließlich wollen wir – beziehungsweise müssen prekär lebende Menschen – die niedrigen Preise unter anderem für Lebensmittel behalten.

Fleischfabrik in Münster.

Nach den teilweise schwer zu ertragenden Reportagen fügt Lübbe einen Bericht von seinen begleitenden Besuchen beim Zoll an. Er überschreibt dieses Kapitel mit der Frage „Beschützer oder Verfolger, Freund oder Feind?“. Dies macht schon deutlich, dass es keine dauerhafte Hilfe für die Beschäftigten „ganz unten“ gibt oder gar diese Ausbeutung – zumindest in Deutschland – durch Überwachung unterbunden werden könne. Auch durch die Politik und das Kapital, dies macht Sascha Lübbe in zwei eigenen Kapiteln deutlich, ist aktuell kaum Abhilfe zu erwarten.

Schlafen, kochen und essen, Körperpflege – Leben auf der Autobahnraststätte.

Hoffnung besteht nur bei klassischer Gewerkschaftsarbeit

Lübbes Erkenntnis: Fast niemand hilft diesen Arbeiter*innen, die „von der Gesellschaft allein gelassen“ (Seite 151) sind. Lichtblicke findet der Autor bei einzelnen gewerkschaftsnahen Organisationen. So hat er Mitarbeiter des Peco-Instituts und auch von dem Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen bei ihrer Hilfstätigkeit begleitet und zu den Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Ausgebeuteten interviewt.

Baustelle in Münster-Kinderhaus.

Unerwähnt bei Lübbe bleibt, dass es sogar staatlich geförderte Stellen gibt, die ebenfalls versuchen mit Aufklärung die prekäre Situation zu entschärfen. Übrigens zum Beispiel auch in Münster. Im Cuba hat die „Beratungsstelle Münster gegen Arbeitsausbeutung“ ihr Büro.

Ähnliche Ausbeutung in anderen Wirtschaftszweigen

Deutlich wird bei der Lektüre des aufklärerischen, durchaus lesenswerten Buch aber, dass nicht nur in den drei von Lübbe untersuchten Branchen Arbeitsbedingungen herrschen, die abgeschafft gehören. Auch in den Wirtschaftsbereichen Gebäudereinigung, Lieferdienste oder Gastronomie und Tourismus gibt es – vermutlich nicht nur Einzelfällen – Beispiele von solcher gnadenlosen Ausbeutung. Sascha Lübbe versucht am Ende („Was nun?“) seines Buches etwas Optimismus zu verbreiten. Trotzdem bleibt er die große, die Systemfrage schuldig. Tatsächlich begünstigen die von Politik und Verwaltung betriebene neoliberale Politik mit immer mehr Privatisierung und zum Beispiel europaweiten Ausschreibungen diese bestehenden ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in Deutschland.

Werner Szybalski

Tribünenbau am Preußenstadion.

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